Biel 100 km: Der persönliche Bericht einer Ersttäterin
Mein erstes Mal:
Meine Knie, aua, mein Rücken macht zu…. Mein BH reibt, da, noch 1 km. Poplige 1000 Meter, oh nochmal Berg hoch, egal das rennst du jetzt durch. Plötzlich tut nichts mehr weh. Man schwebt. Die Tränen kommen hoch, ich Jubel das Publikum an, die mich feiern, als sei ich der Sieger. Ich bin über 12 h und 40 Minuten unterwegs, und da stehen sie alle noch und schreiben meinen Namen, der auf meiner Startnummer steht. Halt…ich bin der Sieger. Mein persönlicher Sieger. Das Beste, was ich leisten konnte. Das spannendste, was ich je gemacht habe. Mit Tränen in den Augen, Hand in Hand mit meiner besten Freundin die mich knapp 70 km begleitete wie ein Wachhund, dass es mir ja an nichts fehlt, dass ich einfach nicht alleine bin, laufe ich ins Ziel.
Aber he, was war eigentlich die letzten 99 km? Gute Frage.
Die Stimmung am Start ist unverwechselbar. Alle sind aufgeregt, egal zum wievielten male sie hier am Start stehen. Egal, wie oft sie schon über 50, 60, 80 oder 200 km gelaufen sind. Für jeden ist es spannend. Man kommt schnell ins Gespräch mit denen links oder rechts von einem. Ich treffe natürlich gleich einen Biberacher. Lustig. Glei am Dialekt erkannt. Es war sein 14. Mal. Und er schwärmte mir in wenigen Sätzen vor, wie geil es wird. Sein Ziel lag zwischen 11 und 12 Stunden. Also rannte ich die ersten Kilometer mit ihm. Meine Nicole sollte ja erst später zu mir stoßen. Um dem Gedränge am Start aus dem Weg zu gehen und den Läufern ihren unvergesslichen Start durch die Bieler Innenstadt zu ermöglichen fuhren die Radler bereits um 21:30 Uhr in der Nähe des Starts los. Mit Polizeibegleitung ging es auch für sie erst durch die Stadt bis nach Lyss.
Auf der Strecke gab es wirklich viel zu erleben. Menschen jeden alters standen oder saßen an der Straße, schauten einem ins Gesicht und riefen einem auf Deutsch, Schwizer Dütsch oder Französisch zu, „hep hep hep“, „weiter so“, oder „prima“, „bravo“, „allee“ usw. Sehr persönlich. Nicht mit einem Marathon zu vergleichen. An den Startnummern erkannte man, bei welchem der vielen Wettkämpfe man teilnahm. Die der 100-er war rot. Also immer wenn jemand meine Nummer erkannte, nickte er respektvoll zu und sagte etwas dazu. Selbst Radfahrer, die gerade auf dem Weg zur Arbeit wahren (erst zu den Morgenstunden) oder ähnliches, riefen einem irgendetwas motivierendes zu.
Da ich schnell schwitze, wurde der Wind irgendwann wirklich lästig. Es war für meine Verhältnisse etwas kühl. Dann immer wieder Regen, von Niesel bis Platschregen. Ich machte mir ständig Sorgen um meine Nicole. Die da mit 7 bis 10 km/h neben mir her radelte, bei Wind und Wetter. Das ist für ein Radler nicht gerade sportlich. Eher wie auf der Couch sitzen und hin und wieder in die Pedale treten. Doch tapfer hörte ich kein negatives Wort von ihr. Im Gegenteil. Sie ist eine Frohnatur, die es verstand meine Laune hoch zu halten. Oder auch einfach mal nichts zu sagen. Die Strecke perfekt markiert, an jedem Pfeil ein Lichtchen. Sehr romantisch für meinen Geschmack. Allgemein ist es eine sehr interessante Atmosphäre, im dunkeln hunderte Läufer vor und hinter sich zu sehen mit Stirnlampe. Die einen quasseln, die anderen Stumm. Manche mit Musik, manche angezogen wie im Winter. Manche wie bei 35 Grad. Ja, jeder Mensch tickt nun mal anders. Und doch haben sie alle das selbe Ziel. Glücklich und Froh ins Ziel zu kommen.
Bis Kilometer 50 ging es mir prima. Mein Kopf und mein Körper waren sich einig, „du rennst heute die 100 km durch“. Doch dann, irgendwann kam ein mega Tief. Keine Ahnung mehr durch was das ausgelöst wurde aber ich begann 6 km lang ernsthaft Pläne zu schmieden, wie ich bei Kilometer 56, Ziel der Ultramarathonläufer, auszusteigen. Ich kam dort an, lief zu einem Schiedsrichter und der sagte mir, ich könne hier aussteigen, würde für den Ultra gewertet mit Urkunde und Finishershirt und könnte dann mit dem Shuttelbus nach Biel fahren. Ich glaube es hat genau einen Becher voll Gemüsebrühe gedauert bis ich den Gedanken komplett verworfen habe. He, nur noch 44 km. Bisschen mehr als ein Marathon. Den Knopf in mir gedrückt, und einfach los gerannt. Nicole sah ich nirgends. Aber ich wusste, die findet mich schon wieder. Ich rannte, drehte mich nicht mehr um. Ich wollte in dieses Ziel in Biel. Bei Tageslicht, mit Publikum, mit der Gewissheit, 100 km gerannt zu sein. Aus eigener Kraft, nach über 1500 Trainingskilometer seit Januar. Also gib Gas Julia und komm in dieses verdammte Ziel.
Da ging plötzlich die Sonne auf und alle Tiere erwachten. Auch meine Lebensenergie kam zurück und ich feierte einen zweiten Start. Und den ersten Sieg gegen meinen Schweinehund.
Langsam wurde mein Mund immer trockener. Hatte ich doch bei der letzten Station zu wenig getrunken. Keine Nicole im Sicht. Zudem kam hier der Punkt, wo die Radler wegen dem Unwegsamen und engen Gelände eine andere Strecke nehmen mussten als wir, und wir hier 10 km auf uns selbst gestellt waren. Der Durst wurde immer schlimmer. Ich bildete mir ein, nicht mehr schlucken zu könne. Halsweh zu bekommen. Da lag eine kleine Flasche auf dem Boden. Die schien jemand verloren zu haben, denn es stand ein Name drauf. Ich drehte den Trinkverschluss ab, und trank es leer ohne mir eine Sekunde über irgendwelche Folgen Gedanken zu machen. Grenzen überschreiten.
Ich traf einen riesen Dachs, einen Igel, Mäuse, viele Vögel. Einfach herrlich mal zu sehen, wo man so rum rennt.
Und Nicole stieß wieder zu mir. Mega glücklich über meinen „Nichtausstief“ rannten wir weiter. Uns überholte ein altes Paar (Mind. 70 Jahre alt) den Berg hoch im Laufschritt bei Km 70. Eh, was ist mit der Welt nicht in Ordnung. Ich feierte die zwei so. Sie schaute mich nur verschämt an und meinte „schauen wir mal wies oben aussieht!“
Die Kilometer vergingen mal schnell mal langsamer. Bekanntlich sind die letzten 10 die schwersten. Das habe ich bei meinen ersten zwei Ultra Läufen bereits feststellen müssen. Nicole sagte ab da nur noch, renn, umdrehen wäre jetzt auch scheiße. Normalerweise kann ich über diesen Spruch lachen, aber hier ging das irgendwie nicht mehr. Ab dem 95. Kilometer haben sie jeden Kilometer ausgeschildert. Fand ich prima, man hangelte sich von Schild zu Schild.
Plötzlich ist man mitten in der Stadt, biegt gefühlt zweimal ab und rennt auf die Zielgerade zu. Dieses Gefühl ist daran Schuld, dass man sowas immer wieder macht. Diese Dankbarkeit, dass man Gesund ist, dass einem dieser Körper tatsächlich so unbeschreiblich harte Sache machen lässt. Das man Schmerzen ertragen kann, darf. Das ist das volle Leben!
Danke an alle, die an mich geglaubt haben. Die mich angefeuert und mir diese viele Zeit des Trainings ermöglicht haben. Ohne Support und liebe Menschen die an einen glauben ist das glaub fast unmöglich.